„Wir können die Welt nur verbessern, wenn wir sie abschaffen“ – Thomas Bernhards „Weltverbesserer“ von Theater Plan B im Rationaltheater

Die Welt ist eine Kloake/ Man muss sie ausräumen“, wettert der zunächst völlig hilflos wirkende „Weltverbesserer“, während er von seiner Frau in den Sessel gehievt und in Position gebracht wird, um mit seinem Monolog zu beginnen. Im Morgenmantel, barfuß und zerzaust sitzt er nun da und lässt – immer wieder unterbrochen durch Klagen über seinen Gesundheitszustand – jene bekannten bernhard’schen Hasstiraden ab: Die Welt ist eine Kloake, sie müsste ausgeräumt werden, aber weil naturgemäß niemand diese Kloake räumt, bleibt sie was sie ist. Kein Weltverbesserer ist in der Lage diese „Weltkloake“ nachhaltig zu säubern. Meist fehlt es auch an Durchhaltevermögen, wie die kleine Geschichtsstunde deutlich macht. Gandhi, Voltaire, Willy Brandt: alle tot – Snowden: fast tot.

Überwiegend dreht sich der abendfüllende Monolog um die Ehrendoktorwürde an jene namenlose Person des Weltverbesserers, die an diesem Tag stattfinden soll. Ein paar Herren werden zum Essen erwartet, um ihm den Titel zu verleihen, den er sich durch sein „Traktat zur Verbesserung der Welt“ verdient hat. Unglücklicherweise wird gerade durch die ihm hierfür verliehenen Titel und Orden deutlich, dass niemand sein Traktat verstanden hat. „Mein Traktat will nichts anderes/ als die totale Abschaffung/ Nur hat das niemand begriffen/ Ich will sie abschaffen/ und sie zeichnen mich dafür aus“.

Man hört ihm gerne zu, diesem Weltverbesserer, obwohl kaum einer sagen könnte, was das unerträglich Bernhardsche erträglich macht. Die Aufführung im Rationaltheater ist wohl nicht zuletzt deshalb mehr als erträglich, weil Titus Horst in der Hauptrolle absolut überzeugt und allen Zuschauern den bernhardschen Humor greifbar machen kann. Andreas Wiedermann gelingt eine solide Inszenierung, voller Hingabe an die sehr anspruchsvolle Sprache, im entspannten Ambiente des Rationaltheaters – ein Thomas-Bernhard-Abend durch und durch.

Nur noch heute, am 20. März, zu sehen, um 20 Uhr im Rationaltheater!

Improcup-Finale 2014

Die Unrasierten Gentlemen vs. Bühnenpolka

Ganz viel Liebe und Harmonie gab es am Samstag beim Finale des Fastfood Improcup 2014 zu sehen und zu spüren. Obwohl der im Scheinwerferlicht glänzende Pokal letztlich nur von einer Gruppe mit nach Hause genommen werden kann, forderte das Publikum immer wieder gleich viele Punkte für beide Teams und sicherlich gingen viele mit einem lachenden und einem weinenden Auge nach Hause. Lachend in Gedanken an die vielen großartigen Momente des Abends und aus Freude über den Sieg der „Unrasierten Gentlemen“ von Impro Berlin, weinend darüber, dass „Bühnenpolka“ aus München trotz vieler wunderbarer Szenen als Verlierer aus dem Match hervorgingen.

Auch auf der Bühne war love in the air, es wurde viel geknutscht, vor allem auf Seiten der Gentlemen, und als Tobias Zettelmeiers (Bühnenpolka) Mikrophon den Geist aufgab, sprang Kjel Fiedler (Unrasierte Gentlemen) ihm kurzerhand bei und schob ihm seines unters Hemd, während Musiker Michael Gumpinger romantische Melodien auf dem Klavier dazu spielte. Natürlich gab es nicht nur Liebesszenen, wie einen Heiratsantrag nach Sprung vom Eiffelturm oder den improvisierten Zirkusfilm „Unterm Trapez“, in dem die Akrobatin sich endlich dem geliebten Zirkusdirektor in die Arme werfen kann. Da war zum Beispiel auch die Katze Minka, die bei Großmutters 80. Geburtstag unglücklicherweise zwischen Großmutter und Tischkante eingeklemmt und dann auch noch von einem Messer am Kopf getroffen wird, woraufhin die Großmutter einen Schock erleidet und Minka ins Grab folgt. Oder die verkorkste Familie, in der Vater und Mutter nicht nur den Bruder des Mannes sondern auch noch den eigenen Sohn lebendig im Kies begraben.

Auch wenn der Improcup 2014 nun zu Ende gegangen ist, kann man sich schon aufs nächste Jahr freuen. Im Januar 2015 geht es wieder los, auf die Teams darf man noch gespannt sein!

PhädraHippolytosLiebe im i-camp

Ein Abend. Ein Thema. Zwei völlig unterschiedliche Inszenierungen. Jutta Ina Masurath und Claus Peter Seifert zeigen im i-camp in jeweils 45 Minuten ihre Auseinandersetzungen mit dem Phädra-Mythos.
Masuraths Inszenierung bezieht sich auf die Bearbeitung von Jean Racine und trägt den Titel Die Bar. Genau das ist auch das Setting: Eine Strandbar, vor der sich die Figuren in der Sonne räkeln. Dem tragischen Stoff wird die Inszenierung nicht nur durch die Atmosphäre, sondern auch durch etliche mehr oder weniger komische Szenen nicht gerecht. Vielmehr setzt sie auf seichten Humor, wenn zum Beispiel Theseus zu Tom Jones‘ Sexbomb auf der Bühne tanzt oder Phädra ihrem Stiefsohn Hippolytos ihre Liebe gesteht, indem sie erst „I love you“ stammelt und ihm dann ihre Brüste entgegen schleudert. Inhaltlich bleibt sie sehr nah an der Vorlage, gleichzeitig wird krampfhaft versucht, den Stoff in die heutige Zeit zu übertragen. Eine Gratwanderung, die hier leider nicht gelingt und albern wirkt. Nika Wanderers Bemühungen, Phädras Leidenschaft und Raserei Ausdruck zu verleihen, verlaufen im Sande der seichten Inszenierung.
Sich nach der Pause nochmal dem gleichen Stoff auszusetzen kostet Überwindung, die aber belohnt wird.
Seiferts Inszenierung mit dem Titel mach mich schön, eine Bearbeitung der Fassung von Euripides durch Michael Wüst, die hier uraufgeführt wird, nähert sich der Thematik feinfühliger, mit mehr Distanz, mehr Ironie und mehr Irrsinn. Hoch erfreulich sind die vielen Anspielungen und die Seitenhiebe auf die französische Klassik („Antike ist chic!“). Das Setting ist ein Irrenhaus und von eitel Sonnenschein ist nicht mehr viel übrig. Bis auf Phädra, die hier definitiv besser platziert ist, sind alle Schauspieler ausgetauscht und könnten ihrer vorherigen Variante kaum mehr widersprechen. Hippolytos, im ersten Teil ein Sunnyboy in Badehose, der ständig Gymnastikübungen vollführt und am Ende auch noch, Jack Johnson Style, mit Gitarre auftritt und singt, ist jetzt ein kindlich wirkender, verstörter Junge in zu enger Jogginghose. Auf Phädras Annäherungsversuche reagiert er daher weder zornig noch mit moralischer Überheblichkeit, sondern lediglich mit verschämtem Kichern. Der Inzest wird hier nicht als Sünde verachtet und bestraft, sondern als gängige Praxis entlarvt, die sich durch die gesamte griechische Mythologie zieht. Phädra wird nicht von moralischen Zweifeln geplagt, sondern möchte nur gern wieder Herrin ihres Körpers werden. Dessen hat sich Aphrodite bemächtigt, mithilfe einer Liebesspritze, durch die Phädra Hippolytos verfällt. Immerhin will auch dieser geliebt werden, und da sein Vater ihn nicht allzu ernst nimmt und keine Arikia zur Stelle ist, können die beiden sich tatsächlich näher kommen. Theseus ist zwar nicht begeistert, als er die beiden erwischt und feststellen muss, dass Phädra seinen verweichlichten Sohn ihm vorzieht, aber da das Inzest-Argument nicht zieht und er ohnehin gleich wieder alles vergisst und von den Ärzten ruhig gestellt wird, ist auch er kein Hindernis. Die wahren Herrscher in diesem Stück sind nicht Könige oder Götter, sondern die Betreiber der Irrenanstalt, die allerdings kaum weniger verrückt sind als ihre Insassen und genauso Opfer ihrer Triebe: Der Marquis de Sade und Schwester Önone/Aphrodite.
Weitere Aufführungen vom 27. – 29. März.

Von den Beinen zu kurz

Philip Decker inszeniert Katja Brunners dramatisches Debüt über Täter-/Opferschaft bei Kindesmissbrauch

Foto: Astrid Ackermann
Foto: Astrid Ackermann

Den Vorraum der Galerie Kulukcu erfüllen neben den Stimmen der wartenden Premierenbesucher und dem Klirren von Bierflaschen düstere Klänge von Musik, dazu Geflüster, das zwar kaum verständlich ist, jedoch beunruhigend klingt. Das unbehagliche Gefühl bleibt, als die Zuschauer den Bühnenraum betreten, der an ein Klassenzimmer erinnert. Sechs Tische sind in einer Art Kreis angeordnet, das Publikum nimmt rundherum Platz. Über jedem Tisch hängt eine Lampe, von der eine Wasserbombe herabbaumelt. Vielleicht kommt es daher, dieses Gefühl, dass etwas nicht stimmt. Oder von dem Menschenhaufen in der Mitte des Raumes. Dort liegen die Schauspieler übereinander gestapelt und kaum auseinander zu halten, reglos wie Puppen. Nachdem es ihnen gelungen ist, sich voneinander zu trennen, stellen sie sich im Kreis um das Publikum herum. Zwischen ihnen entwickelt sich ein Gespräch, wobei sich jedoch keine Charaktere ausmachen lassen. Die sechs Schauspieler, vier Frauen und zwei Männer, können verschiedene Perspektiven und Positionen einnehmen. Mal scheinen sie allwissend, wenn sie beispielsweise von der Geburt des Kindes erzählen, die sie sowohl aus dessen als auch aus der Perspektive der Mutter miterlebt zu haben scheinen. Dann wiederum wissen sie überhaupt nichts, sondern spekulieren wild drauf los und widersprechen sich. Das ganze Stück setzt sich im Wesentlichen aus Spekulationen zusammen, einem Versuch, die Gefühle und Geschehnisse in einer Familie, bestehend aus Vater, Mutter und Tochter, zu rekonstruieren und einzuordnen. Klar wird: Die Familienverhältnisse sind zerrüttet, der Vater missbraucht die Tochter, die ständig kränkelnde Mutter sieht zu und schweigt. Man kennt diese Fälle, zumindest aus den Medien, es steht fest, wer Täter und wer Opfer ist, mit wem man sympathisiert und mit wem nicht. Doch so einfach ist es dann doch nicht.

Bis zuletzt bleibt unentscheidbar, was sich nun wirklich zugetragen hat, wer die Wahrheit sagt und ob überhaupt jemand Schuld trägt. Ist die Tochter wirklich Schuld an dem Blutbad, in dem die Schauspieler sich wälzen? Ist der Vater tot oder ist das ein Wunschtraum? Ist die Mutter in Wirklichkeit die Schutzbedürftige? Trotz des brutalen Inhalts und der Wortgewalt von Katja Brunners Stück hat Philip Deckers Inszenierung, zumindest vordergründig, auch eine sanfte Komponente. Zwischen den Akten (wenn hier von Akten die Rede sein kann) tritt eine Märchenerzählerin im Arztkittel auf, die, teilweise singend, Ausschnitte der Geschichte einer Prinzessin zum Besten gibt. Immer wieder sind an der Wand Szenen aus Disney-Filmen zu sehen. Doch auch in den scheinbar harmlosen Kindergeschichten bahnt sich die Brutalität ihren Weg. Da ist die geschrumpfte Alice, die fast in ihren eigenen Tränen ertrinkt, Bambi, der seine Mutter verloren hat und nun vor seinem übermächtigen Vater steht, und der König im Märchen, der seine Tochter verspeist, weil ihre Wangen ihn plötzlich an Äpfel erinnern.

Die Inszenierung verstört bewusst, sie gibt keine Antworten, sondern hinterlässt den Zuschauer im Gegenteil mit jeder Menge Fragen. Wie sollen, wie können wir mit solchen Familiengeschichten umgehen? Müssen wir die Gemeinplätze verlassen, auf denen wir es uns bequem gemacht haben, und womöglich genauer hinsehen? Wie können wir Menschen und Handlungen einordnen, wenn Gut und Böse nicht zu unterscheiden sind?

Noch dreimal gibt es die Möglichkeit, diesen intensiven und spannenden Theaterabend mitzuerleben: Am 11., 12. und 13. Februar, jeweils um 20 Uhr.

Die Geographie des Herzens – Erfolgreicher Auftakt des Fastfood Improcup 2014 im Schlachthof

Im ausverkauften Saal des Schlachthof läutete das Fastfood Theater am Samstag den diesjährigen Improcup ein – ein Theatersport-Turnier, bei dem sich acht Zweierteams in verschiedenen Disziplinen des Improtheaters messen müssen. Mithilfe von Vorgaben des Publikums und eines Zufallsgenerators erfahren die Spieler, was sie für uns spielen dürfen. Und das sind nicht gerade Szenen aus dem Alltag – oder hat schon mal jemand einen Heiratsantrag in einer hallenden Folterkammer bekommen? Nach jeder Szene dürfen die Zuschauer mit ihrem Applaus Punkte an ihr favorisiertes Team vergeben, der nicht immer ganz eindeutig ausfällt.Improcup-Publikum im ausverkauften Schlachthof

Ins erste Viertelfinale 2014 starteten die Teams Improvista Social Club aus Wien (mit Barbara Willensdorfer und Helmut Schuster) und Body and Soul aus München/Regensburg (mit Monika Eßer-Stahl und Erik Muero). Nachdem die Spielregeln erklärt sind und auch das Publikum weiß, was es zu tun hat, dürfen sich die Teams in der „Polsterrunde“ mit Startpunkten eindecken, indem sie sich von ihrer besten Seite präsentieren. Obwohl die Aufgaben immer schwieriger und die Regeln immer strenger werden, gibt es während des ganzen Matchs keinen Anlass, „Zumutung“ zu rufen. Dieser Einwand ist den Zuschauern nämlich gestattet, wenn eine Szene völlig daneben geht. Doch die Spieler sind Profis und lassen sich auch von den seltsamsten Vorgaben nicht aus der Ruhe bringen. Weil das Publikum sich in der „Angeberrunde“ nicht entscheiden kann, ob es lieber einen Vortrag über Geologie oder über Herzchirurgie sehen möchte, improvisiert Monika kurzerhand einen wunderbar absurden Beitrag über die Geographie des Herzens, den ihr Spielpartner Erik als (sehr sportlicher) Gebärdendolmetscher bebildert.  Vor der Pause spielen beide Teams gemeinsam ein Musical mit dem von einer Zuschauerin gewünschten Titel „Hallo Huhn“, das von zwei Hähnen handelt, die sich als Hühner ausgeben. Als sie aufzufliegen drohen, bleibt ihnen nur ein Ausweg vor dem Kochtopf: Sie müssen fliegen lernen. Während sich Helmut und Erik gackernd im Fliegen versuchen, singen Barbara und Monika ihnen ein ermutigendes Lied. Geholfen wird ihnen dabei von Musiker Michael Armann, der am Klavier mit improvisiert. Eine so skurrile und witzige Darbietung gäbe es auf einer echten Musicalbühne wohl eher nicht zu sehen.

Es ist ein Kopf-an-Kopf-Rennen, bis zuletzt ist nicht abzusehen, wer das Match gewinnen wird: Erst sichern sich Improvista Social Club die Gunst der Zuschauer mit einer grandiosen Szene über den Absturz einer Sängerin, bei der die beiden Spieler sich gegenseitig synchronisieren, dann holen Body and Soul wieder auf mit einem Lied über Kasachstan. Doch es kann nur einen Gewinner geben heute Abend und zuletzt ist es ein knapper, aber verdienter Sieg für die Wiener von Improvista Social Club. Schade, dass Body and Soul nun nicht mehr dabei sein werden – doch weiter geht es trotzdem: Am 1. März mit den Teams Prima Klima und Die unrasierten Gentlemen! Wer dabei sein will, sichert sich am Besten schon im Vorverkauf ein Ticket, der Andrang an der Abendkasse ist nämlich auch ein kleiner Wettkampf. Der macht allerdings nicht so viel Spaß.

Improvista

Zu Gast bei Spielart: Geh mir aus der Sonne von Ofira Henig

Im Rahmen des Spielart Festivals zeigen aktuell viele internationale Künstler ihre Arbeiten, darunter auch Ofira Henig mit ihrer nur in Europa gespielten Produktion „Geh mir aus der Sonne“ im Schwere Reiter. In einer Art Biographien-Collage setzen sich die israelische Regisseurin und ihr Ensemble mit Heimat und Exil, mit Identität und Unterdrückung, mit künstlerischer Freiheit und persönlichen Überzeugungen auseinander.

Henigs eigener Weg zum freien künstlerischen Ausdruck, ihre Suche nach einer jüdischen Identität, ihre Ängste werden mit den Geschichten von Heinrich Heine, Federico García Lorca, Leni Riefenstahl und Robert Capa konfrontiert. Doch diese Charaktere vermischen sich immer wieder auch mit den Darstellern, die Grenzen verschwimmen. Obwohl alle Biographien geprägt sind von Vertreibung, Unterdrückung und Entbehrungen und in diesem Kontext auch die deutsche Vergangenheit nicht ausgeblendet werden kann, kommt das Stück keineswegs mit erhobenem Zeigefinger daher. Die Personen werden nicht schwarz-weiß gezeichnet, sondern als facettenreich, teilweise mit durchaus ambivalenten Charakterzügen dargestellt. So kann man als Zuschauer fast Mitleid bekommen mit Leni Riefenstahl, die doch eigentlich „nur schöne Filme machen“ wollte und sich keiner Schuld bewusst ist. Schließlich sieht sie darin ihr gutes Recht als Künstlerin, mit Nazi-Ideologie hat sie nichts am Hut. Beeindruckend ist die zum Teil unerschütterliche Vaterlandsliebe der Figuren. So wünscht sich Heine beispielsweise trotz seines schwierigen Verhältnisses zu Deutschland nichts mehr, als in seiner Heimat bestattet zu werden. Umso tragischer wirkt die Tatsache, dass er nun in Paris, Montmartre, begraben liegt. Wirklich Schuld sind nur diejenigen, die Lorca (alias Doron Tavori) als die „falschen Spanier“ bezeichnet, die es aber auch in jedem anderen Land gibt. Diejenigen, die ihn letztlich erschießen, „in den Arsch, weil er ein Schwuler ist“.

Genau wie die dargestellten Persönlichkeiten stammen auch die Schauspieler aus verschiedenen Ländern und sprechen verschiedene Sprachen. Die deutsche Übersetzung gibt es zum Mitlesen. Aufgrund der Textmassen kommt man so leider kaum dazu, dem Geschehen auf der Bühne zu folgen. Zum Glück der nicht multilingualen Zuschauer ist die Inszenierung allerdings auch eher statisch, der Text steht im Vordergrund. Abgesehen von Unterbrechungen durch Musik- und Tanzeinlagen kann man sich voll und ganz auf die spannenden Erzählungen konzentrieren.

„Venise sous la neige“. Die französische Compagnie Antéros im Teamtheater Tankstelle

Bisher stand ich Komödien im Theater immer eher skeptisch gegenüber – allzu leicht wirkt das Komische dann doch sehr albern. Bei Marcus Morlinghaus‘ Inszenierung von „Venise sous la neige“ erwies sich dieses Vorurteil allerdings als unbegründet. Die Übertreibung geht nie so weit, dass man sich nicht immer noch in die Figuren hineinversetzen kann. Und die bringen sich zum Teil in derart unmögliche Situationen, dass man kaum hinsehen kann, so sehr fühlt man sich selbst betroffen. Glücklicherweise rettet die Komik einen sofort wieder aus solch beklemmenden Situationen. Autor Gilles Dyrek nimmt sich in seinem Stück nicht nur diverse Klischees vor (ohne dabei plump zu wirken), er schafft auch durch seine Dramaturgie immer wieder geniale Gegensätze und unendliche Reihen von Missverständnissen, das Ganze gespickt mit sehr viel Wortwitz und Liebe zum Detail. So macht schon die erste Szene sehr viel Spaß, als das verliebte, kurz vor der Hochzeit stehende und dauerknutschende Pärchen Nathalie (Cécile Bagieu) und Jean-Luc (Thierry Seroz), die füreinander nur „Chouchou“ und „Chérie“ heißen, Jean-Lucs alten Studienfreund Christophe (Marcus Morlinghaus) und dessen Freundin Patricia (Marie Navarre-Nebel) empfängt. Leider haben sich die beiden gerade fürchterlich gestritten und sie denkt über Trennung nach. Da Patricia aus Trotz zunächst kein Wort redet, kommt es zu einem großen Missverständnis, auf dem alle weiteren Geschehnisse basieren: Die Gastgeber halten Patricia für eine Ausländerin, die kein Wort Französisch versteht. Eine überraschende Wendung nimmt der Abend dann allerdings, als sie den Irrtum begreift und für sich zu nutzen beginnt. Marie Nebel zuzuschauen, wie sie plötzlich virtuos „chouvenisch“ spricht und mehr und mehr in ihrer Rolle aufgeht bis sie alle in der Hand hat, macht wirklich Spaß. Überhaupt verdankt die Inszenierung auch viel der schauspielerischen Leistung aller vier Darsteller. So überzeichnet und unrealistisch manche Szenen auch wirken, die Schauspieler sind so überzeugend, dass man ihnen gerne alles glaubt.Bild

Die Komödie nimmt die Perspektive des Kleinbürgers auf die Schippe, der kaum über seinen Tellerrand hinaussehen kann, sich aber trotzdem gern weltoffen, großzügig und supertolerant gibt. Dabei schießt er hier einerseits weit über das Ziel hinaus, demonstriert andererseits das genaue Gegenteil und macht sich durch seinen unbegrenzten „guten Willen“ bereitwillig selbst zum Opfer. Am Ende ist man hin- und hergerissen, ob man nun Mitleid empfinden soll oder doch eher Schadenfreude.

Frankophilen und frankophonen Theatergängern sei diese Inszenierung auf jeden Fall sehr ans Herz gelegt. Weitere Aufführungen gibt es vom 6. bis 9. November, jeweils um 20 Uhr.

Durch die Brille des Blinden – „Alternativlos oder das Titanic-Syndrom“ von Manfred Killer im i-camp

Während die Zuschauer den Raum betreten und nach und nach ihre Plätze einnehmen, sitzt Ludger Lamers bereits auf der Bühne in einem Sessel und hält einen Vortrag. Immer wieder unterbricht er sich, um jemanden zu grüßen oder zum Hinsetzen aufzufordern. Plötzlich steht er auf, stellt sich vor das Publikum und beginnt eine ganz neue Rede, die mit „Meine lieben Mitarbeiter“ beginnt – wie wir jetzt erfahren, befinden wir uns nämlich bei einer firmeninternen Fortbildung. Als Motivationstrainer Bernhard bittet Lamers eine Zuschauerin, ihm ihr iPhone zu überlassen, um ein neues Produkt daran vorzuführen. Als er das Handy in einen Eimer Wasser wirft, um die wasserdichte Schutzhülle zu testen, ist der Schock im Publikum groß. Leider werden die Zuschauer, nachdem sie so aktiviert worden sind, im weiteren Verlauf der Performance nicht mehr so viel einbezogen.

Bernhard kommt nach dem Tod des Firmenchefs, zahlreichen Umstrukturierungen in der Firma und einem Burnout schließlich der Gedanke, sich als blind auszugeben, so wie die Hauptfigur in Max Frischs Roman „Mein Name sei Gantenbein“. Fortan trägt er eine Sonnenbrille, arbeitet nicht mehr, hat aber dafür zum ersten Mal den „Durchblick“. Das Bühnenbild, das bis hierher nur aus Bernhards Sessel und einer Leinwand bestand, auf die verschiedene großstädtische Schauplätze projiziert wurden, wird nun um eine Ebene erweitert. Ein Teil der Leinwand lässt sich entfernen, so dass der Blick frei gegeben wird auf das, was hinter der Fassade passiert. Hinter eine Scheibe befindet sich dort ein Konferenzraum von Bernhards ehemaliger Firma, wir wohnen einem Team-Meeting bei. Bernhard stellt von außerhalb alle Teilnehmenden vor. In seinem Transistorradio laufen außerdem Berichte über die Hintergründe der Personen. Es stellt sich heraus, dass eigentlich alle auf eher dubiose Weise an ihre Führungsposten gekommen sind. Die Gespräche, die hinter der Glasscheibe stattfinden, sind abwechselnd nur durch Untertitel nachzuvollziehen und tatsächlich mithörbar. Bernhard beobachtet, reflektiert und kommentiert das Geschehen. Leider zieht die Konferenz selbst sich doch sehr hin und ist dabei kaum spannender als eine solche Veranstaltung es wohl in echt ist. Unterbrochen wird das Ganze immerhin gelegentlich von absurden Sequenzen wie wilden Tänzen oder einer fliegenden Getränketüte.

Als Hauptthematik lässt sich die Privatisierung von Trinkwasser ausmachen, es geht aber auch um Globalisierung, das „Gesundschrumpfen“ von Firmen, undurchsichtige hierarchische Strukturen und Sexismus. Alles brisante Themen, über die sich viel sagen lässt und über die man schon viel gehört hat. Leider hat die Inszenierung dem Bekannten nichts Neues hinzuzufügen.

Das Ende der Inszenierung regt dann doch noch ein bisschen zum Nachdenken an und ist eigentlich sehr gelungen. Die Leinwand wird wieder geschlossen, das Büro verschwindet und Bernhard wendet sich wieder ans Publikum. Diesmal begrüßt er zu seinem „Durchblickseminar“, er hat Sonnenbrillen mitgebracht und bittet die Zuschauer, auf die Bühne zu kommen. Dort werden einzelne Personen mit Sonnenbrillen ausgestattet und von anderen über die Bühne geführt, sie sind nun ebenfalls „blind“. Die Schauspieler treten auf und bieten den Zuschauern Häppchen und Wein an, wie bei einem Empfang. Alle sind bestens gelaunt. Das Titanic-Syndrom. Unbemerkt begeben sich die Schauspieler schließlich in den mittlerweile leeren Publikumsraum. Die Rollen sind nun umgedreht, die Zuschauer selbst zu Akteuren geworden. Was man in dieser Position ausrichten kann, darüber kann man sich jetzt Gedanken machen. Leider ohne von Seiten der Inszenierung viel Input zu bekommen. Ist das System also doch alternativlos?

Foto: Michael Wüst
Foto: Michael Wüst